OD: Moin Mathias, Grüße aus Berlin! Wie sieht die Welt in Witzenhausen aus? 


MB: Moin Ole – bisschen regnerischer heute, aber auch noch lang nicht genug Regen, um unsere Wasservorräte im Garten aufzufüllen. Mal abwarten, wie sich das in den nächsten Tagen so entwickelt. Irgendwie auch passend zur Lage vieler Bürger im Land. Du wolltest ja ohnehin über die Bürger und ihre Rechte reden, oder? 


OD: Genau - und zwar: wie wir im Zusammenhang von COVID-19 darüber sprechen. Die Sprache macht mir Sorgen. Wohlstandskinder erklären den „Kriegszustand“ oder erheben die Krise zu einer allgemeinen Frage von „Leben und Tod“. Das ist natürlich in zu vielen Einzelfällen wahr. Aber müssen wir in dieser Phase, in der wir gerade erst angefangen haben, uns der Lage zu stellen, aber noch nicht einmal verstehen wie wir zählen sollen wirklich schon den Wortschatz für die extremsten Auswüchse der Unmenschlichkeit bemühen? Was machen wir denn, wenn nicht nur das Virus sondern auch die Gesellschaft selbst aggressiv wird? Wenn der Wohlstandsspeck und das Vertrauen in die Politik aufgezehrt sind? Für ein solches Szenario gibt es dann nicht einmal mehr Begriffe! 

Wie beiläufig gewöhnen wir die Öffentlichkeit daran, aus dieser rhetorischen Fallhöhe von Einschränkung der Bürgerrechte zu reden. Ein Epidemiologe sorgt sich im Interview, „dass wir hier vielleicht sehr leichtfertig kostbare Bürgerrechte über Bord werfen, die wir mühsam über Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte sogar aufgebaut haben. Und wenn das alles noch dazu nicht nützlich ist, dann sehe ich das Ganze sehr kritisch." Großen Printmedien machen mit der Unsicherheit Politik: Achtung - Bürgerrechte werden eingeschränkt! Durch Regeln allgemeiner Vorsicht und Rücksichtnahme, was „mindestens fragwürdig ist. Jens Spahn hat es trotzdem mal versucht.“ Hier wird die Verhältnismäßigkeit auf die Ebene des politisch Grundsätzlichen verschoben. Ist das Unverstand oder gedankenlos? Jedenfalls wünsche ich mir eine weniger fahrlässige Redeweise. Denn hier werden zwei ganz verschiedene Fragen vermischt: die Garantie der Bürgerrechte ist nicht verhandelbar; darüber wie sie rechtsförmig organisiert wird, entscheidet die Gesellschaft. Wir haben noch lange keinen „Ausnahmezustand“ - in irgendeinem existentiellen Sinne. Es geht darum, auf der organisatorischen Ebene möglichst effiziente und handwerklich effektive Lösungen zu finden. Dabei kann man auch von einem Recht auf Abwehr unverhältnismäßiger Maßnahmen reden. Es ist verhältnismäßig Bürgerrechte neu zu strukturieren, wenn die Normalverhältnisse, unter denen sie geschützt sind, sich geändert haben. Nicht die Rechte wohl aber die erforderlichen Maßnahmen werden verändert. Das müssen wir gewissenhaft und ehrlich aushandeln. Das kann eine gesunde Demokratie. 
Was sagt der Arzt dazu? 


MB: Nun, das sind viele wichtige Aspekte, die Du hier ansprichst. Ich bin zwar kein Jurist oder Menschenrechtler, aber als Bürger und Mediziner werde ich mal versuchen Dir aus meiner ganzheitlichen „Global Health“-Perspektive einige Antworten zu geben.

Werden in Deutschland also gerade unsere Bürgerrechte eingeschränkt? Ja und Nein. Ja, die Bewegungsfreiheit ist vorübergehend eingeschränkt, aber im Gegensatz zu vielen anderen Menschen (z.B. in Indien, Spanien oder Südafrika) dürfen wir uns noch einigermaßen frei draußen bewegen. Zudem wurde uns mit einer guten und nachvollziehbaren Begründung diese zeitlich limitierte Einschränkung im Rahmen der geltenden Gesetze kommuniziert. Das diese Maßnahmen Wirkung zeigen, sehen wir bereits jetzt daran, dass die Zahl der am Coronavirus infizierten Personen Tag um Tag weniger langsam anwächst. Momentan verdoppelt sich die Anzahl der Erkrankten etwa alle 5-6 Tage, letzte Woche waren es noch alle 2-3 Tage. Das die Zahl der schwer Erkrankten und der Todesfälle stärker ansteigt, ist durch die Länge der Inkubationszeit und der Behandlungsdauer auf der Intensivstation zu erklären…

…aber zurück zu den Bürgerrechten. Es kommt hier auch immer darauf an, wie die Bürger diese für sich persönlich jeweils interpretieren. In einem wohlhabenden „freien“ Land werden Bürger vom Staat immer mehr Rechte einfordern, wie z.B. in den USA das Recht auf Waffenbesitz und der Selbstverteidigung mit eben diesen. In anderen autoritär(er) geführten Ländern, sind und werden nun Bürgerrechte schnell(er) und weit(er) eingeschränkt. Leider gilt das zunehmend auch für Länder aus der EU, wie z.B. Ungarn und Polen, deren Regierungen jetzt die Corona-Pandemie ausnutzen möchten, um schnell und unauffällig die Bürgerrechte noch weiter einzuschränken.

Dieses ist in Deutschland nicht zu erwarten. Zwar haben die Bürger in den letzten Jahren zunehmend das Vertrauen in die Politiker verloren, jetzt wo diese aber endlich mal wieder etwas aktiv für die Bürger machen, anstelle sich vorwiegend nur mit sich selbst zu beschäftigen, wächst auch das Vertrauen zumindest in die seriösen und anpackenden Politiker wieder. Es ist auch gut zu sehen, und sicherlich auch der guten Vorbereitung und Ausrüstung unseres Gesundheitssystems geschuldet, dass uns ein „name and blame game“, wie in anderen Ländern (USA, Großbritannien oder China) erspart bleibt.

Im Kontext der Bürgerrechte ist es aber auch wichtig, die Bürgerpflichten zu erwähnen. Genauso wie wir ein Recht auf Gesundheit haben, hat das unser Nachbar, die Kassiererin im Supermarkt oder der Krankenpfleger selbstverständlich auch. Und sogar die „Journalisten“, die immer noch mit Horror-Schlagzeilen weiter unnötig Panik verbreiten und damit vielen Entscheidungsträgern u.a. im Robert Koch-Institut das Leben schwer machen, besitzen dieses Recht auf Gesundheit. Und daher ist es nun einmal auch die Pflicht eines jeden Bürgers sich selbst gerade in solch einer Ausnahmesituation ein wenig und vorübergehend einzuschränken, um die Gesundheit anderer Menschen direkt oder indirekt nicht zu gefährden.

Wenn man dann zusätzlich, wie z.B. durch die freiwillige Nutzung einer Handy-App (wie in Südkorea), es dem öffentlichen Gesundheitssystem und letztendlich sich selbst auch einfacher macht herauszufinden, ob man ggf. einem Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen ist, dann sollte man diese Möglichkeit auch nutzen. Das hat für mich nichts mit einem „Überwachungsstaat“ zu tun, weil dieses vom Staat eingerichtete System sicherlich viel besser mit unseren Daten umgehen wird, als kommerzielle Anbieter, wie Google, Alexa, Facebook und andere Dienste dieses tun, wo die Bürger ihre Daten sogar freiwillig und ungesichert herausgeben.

Dementsprechend sehe ich es ähnlich wie einige Experten der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz (EAID): letztendlich müssen sich alle, die Bürgerrechte ggf. einschränkenden Maßnahmen „daran messen lassen, ob sie für eine wirkungsvolle Pandemiebekämpfung wirklich hilfreich, erforderlich und verhältnismäßig seien.“

Ganz am Ende möchte ich aber auch noch ein Positiv-Beispiel erwähnen: Portugal wird, zumindest bis zum 1. Juli, allen Migranten mit unklarem Status und Asylbewerbern im Land die gleichen Bürgerrechte einräumen, wie den eigenen Bürgern (inkl. Zugang zu Gesundheits- und Sozialsystemen).


OD: Danke, wie schön wäre es, wenn mehr Länder diesem Beispiel folgen würden (auch gerne für länger als Juli..). Das wäre ein großartiger Beitrag für die globale Gesellschaft und ihre Gesundheit.

MB: So ist es. Kein Mensch ist illegal…Salve…