„Strategien gegen das Coronavirus: Tödliche Arroganz?!“
MB: Moin Ole, wie läuft es denn so im großen Berlin?

OD: Moin Mathias, das überall improvisierte home-schooling (eigentlich: home-teaching) und home-office prägt die Alltagsstrukturen. Die gutwillige Überraschung, mit der überwiegend reagiert wurde, schlägt allmählich in Gereiztheit um. Viele wissen nicht, ob sie sich über das politische Ringen um gemeinsame Linien freuen oder an den Versäumnissen der vergangenen Jahrzehnte verzweifeln sollen, in denen weder Personal noch Schulen für einen solchen Ernstfall aufgebaut wurden. Man liest gerade viel über die erfolgreichen Strategien einiger asiatischer Länder, wie z.B. auch im SPIEGEL. Sollten wir in Deutschland lernen, was dort nach SARS passiert ist?

MB: Von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen, ist sicherlich sehr sinnvoll. Allerdings ist die Schlagzeile, die wir hier mal frech kopiert haben, auch um deren Effekt auf unsere Klickzahlen zu sehen, mir zu reißerisch. Insgesamt gesehen ist die Welt komplexer und das Verhalten der Menschen lässt sich nicht von heute auf morgen ändern, wie der Beitrag suggeriert. Es wird auch niemals einen Idealstandard-Ansatz geben. Der wäre außerdem sehr teuer und für die Bürger nicht nachvollziehbar. Hier im Werra-Meissner-Kreis (100.000 Einwohner) wurden bislang 20 Menschen positiv auf das Virus getestet. Keiner scheint bislang schwer erkrankt oder verstorben zu sein. Wie lange werden die anderen 99.980 Personen noch still zuhause sitzen? Werden sie eine Maske aufsetzen, wenn sie nach draußen gehen? Wer soll die Masken beschaffen und bezahlen? Welche Konsequenzen gäbe es für die Menschen, die partout keine Maske tragen würden?

Gute Masken für alle Menschen, die engen Kontakt mit Risikogruppen haben, wären sinnvoller. Gerade ältere Menschen würden sich daran halten. Ich habe vorletzte Woche einen Beitrag aus Hamburg gesehen, wo ein älteres Ehepaar (beide über 80, sie mit Demenz im Altersheim) sich voneinander verabschieden mussten, weil der Mann wegen der Corona-Pandemie kein Besuchsrecht mehr hat. Er weiß nicht, ob er seine Frau jemals wiedersehen wird. Ich fände es richtig, wenn diese Menschen – gut geschützt – sich nach negativen COVID-Tests für beide wiedersehen dürften. Viele Pandemie-Maßnahmen tragen ihren Anteil zur Bekämpfung des Virus bei. Ein Lock-down führt wahrscheinlich für die nächsten Wochen zu einer Reduzierung der Fall- und Todeszahlen. Allerdings entsteht so noch keine Immunität bei einem Großteil der Bevölkerung. Und der nächste Ausbruch wird sicherlich kommen, zwar schwächer, weil die Vorkehrungen dafür bereits getroffen worden sind, aber wie werden die Behörden dann reagieren? Die Top-Priorität sollte aber die Sicherheit der Risikogruppen (inklusive der „systemrelevanten“ Berufe) haben.

Apropos „Systemrelevanz“: Welches „System“ ist eigentlich gemeint? Ein Gesellschafts-System? Und wenn jetzt immer vom „Gesundheitssystem“ gesprochen wird. Was gehört zu diesem? Und sollten wir nicht besser über das „Gesundheitswesen“ diskutieren?
Wie siehst Du das?

OD: Die Weichen sind gestellt, wir können jetzt nur tätig abwarten. Das heißt, alle unterstützen, die helfen, heilen und versorgen und uns nicht irre machen lassen. Die Verhältnismäßigkeit muss fortlaufend ausbalanciert werden, Achten wir dabei auf die vielen Vorbilder und seien couragiert was den Umgang mit Zynikern, Rücksichtslosen und Wichtigtuern angeht.
Wer dafür den Kopf hat, sollte jetzt genau beobachten und dokumentieren: was hilft, was fehlt, wie ginge es besser – beim nächsten Mal. Dahin gehört auch deine Frage nach der „Systemrelevanz“ Einerseits sind in einer hochgradig spezialisierten arbeitsteiligen Gesellschaft nur wenige Bereiche ganz irrelevant. Da gilt es zu priorisieren – nach klaren Prinzipien: wenn es um Gesundheit und Bildung geht, muss das Gesundheitswesen besonders personell und ökonomisch ganz anders ausgestattet werden – und die Schulen müssen in eine Verfassung gebracht werden, in der sie Gesundheitsbildung und soziale Kompetenzen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen können – und nicht nur in weltfremde Leitbilder. So können wir eine Bildungs- und Informationsgesellschaft kompetent für Gesundheit und Solidarität machen. Das wäre systemrelevant. Aber wir denken hoffentlich noch weiter. Denn die arbeitsteilige Gesellschaft ist durch die Globalisierung längst nicht mehr auf Deutschland oder die EU beschränkt. Wir müssen auch nach Wegen suchen, dies für die Weltgesellschaft insgesamt zu verstehen. Wie finden wir da gemeinsame Nenner für Verhältnismäßigkeit? Im Moment können wir ja noch nicht einmal abwägen, ob es um Würde oder Recht, Qualität oder Dauer „des Lebens“ gehen soll. Systemrelevant wäre wohl zunächst einmal auch eine Ethik die ihren Namen verdient?  Es gibt viel zu tun und noch mehr zu fragen…

MB: So ist es. Bis Morgen dann. Salve..