„Schwedisches Laissez-faire oder französische Gardinen?“
 
MB: Moin Ole, wie läuft es mit den ersten Lockerungen in Berlin?

OD: Moin Mathias. Von Lockerung kommt wenig an, eher Verkrampfung. Das ohrenbetäubende Knirschen aus den Maschinenräumen unserer Regierungen macht Kopfweh und verdirbt die Laune: je mehr wir erfahren wonach man sich zu richten hat, desto weniger klar erscheint vielen der Sinn und die Verhältnismässigkeit.

MB: Hier in unserer Kleinstadt kommt das Leben so langsam wieder in Fahrt. In den Geschäften tragen einige Personen bereits Masken von sehr unterschiedlicher Qualität und es ist schwierig daran zu erkennen, wen der Träger eigentlich schützen möchte und wen nicht. Vielen sind die Unterschiede wahrscheinlich auch gar nicht so bekannt. Man erkennt natürlich auch die Gefühlslage der Menschen weniger, da wir nicht gelernt haben nur über die Augen zu kommunizieren. Beide Lager, die der Maskenträger und die der Noch-Nicht-Maskenträger beäugen sich derzeit recht kritisch. Wenn nun ab der nächsten Woche auch in Hessen eine Maskenpflicht (= eine „dringende Empfehlung“) in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln eingeführt wird, werden wir wieder alle gleich sein. Damit übernimmt der Staat bzw. übernehmen die Bundesländer wieder mehr von der Verantwortung des Einzelnen. Obwohl die bisherige Linie, den mündigen, aber verantwortungsbewussten Bürgern gewisse Freiheiten zu lassen, doch auch ganz gut funktioniert hat. Die deutsche Strategie ähnelt ohnehin eher der schwedischen als der französischen, wo man kaum ohne Sondergenehmigung aus dem Haus gehen darf. Der wesentliche Unterschied zu den Schweden liegt wohl bei der Öffnung von Restaurants, Kneipen und anderen Begegnungsorten. Psychologisch sehr sinnvoll und politisch wohl auch. Wie finden wir also die richtige Balance zwischen der Eigenverantwortung, für sich selbst und die Gesellschaft, und der Fürsorge staatlicher Institutionen durch Regulierungen oder die Einschränkung von Freiheitsrechten?

OD: Schaffen wir es, Restaurants als Orte der gemeinschaftlichen Ernährung, der Gesundheit und Rücksicht zu begreifen? Viren unterstehen ausnahmslos den Naturgesetzen, ohne sie zu verstehen. In diesem engen Rahmen entfalten sie beachtliche Kreativität – das erkennen wir an ihrer Mutationsfreudigkeit. Wir Menschen müssen verstehen um zu leben. Das ist mit der Arbeit des Lernens verbunden und mit der Frustration, dass unser Wissen immer begrenzt ist. Unser Bonus besteht darin, daß mit diesem Verstehen auch die Freiheit kommt uns als verantwortlich zu begreifen: für unsere Gesundheit und unseren Wert. Damit gewinnen wir eine ganz neue Dimension, nämlich gestalten zu können: zum Beispiel die Fesseln der Schwerkraft, die Bedingungen unserer Gesellschaft und den Vormarsch des Virus, im Café oder in der Herde. Wir können in gemeinsamer Arbeitsteilung Werte-orientiert erwägen, priorisieren und das Verhältnismäßige ermitteln. Niemand muß dümmer sein als das Virus. In diesem Sinne geht es weder um laissez faire noch um Entmündigung. Die schwedische Strategie verbindet zielführende Regeln mit Eigenverantwortung und versteht den gesamten Umgang mit COVID-19 als gesellschaftlichen Lernprozess. Dieser Schwedenhappen könnte auch uns für den Kampf gegen das Virus stärken.

MB: Ja, das stimmt. Und wie es Olivia Biermann und Birger Forsberg so passend formuliert haben, „kann momentan keiner wirklich sagen, welche Kontrollstrategie die bessere ist. Es scheint aber klar zu sein, dass jede Strategie – genau wie die Debatten darüber – sinnvollerweise auf den jeweiligen lokalen Kontext bezogen und wertebasiert sein muß.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Der Blick nach außen ist zur Orientierung sehr wichtig, aber einen one-size-fits-all approach gibt es in dieser Krise nicht.

OB: Salve…