MB – Moin Ole, wie sieht es bei Euch in Berlin aus?
OD – Moin Mathias, die Sonne scheint, ein frischer Tag und die wenigen Menschen, die man noch sieht, sehen erstaunlich entspannt aus. Das hat etwas Ermutigendes. Und wie läufts in der Hauptstadt der ökologischen Agrarwissenschaften, Witzenhausen?
MB – Auch alles soweit sehr ruhig hier, man merkt schon, dass nur noch wenige zur Arbeit nach Kassel oder Göttingen pendeln, dafür mehr im Garten arbeiten. Wir haben heute den Kompost gesiebt und uns dabei über die Pandemie unterhalten. Wir kommen immer wieder an den Punkt der Verhältnismäßigkeit der globalen Reaktion auf das Corona-Virus. Wie Du weißt, habe ich auch Verwandte mit einem relativ hohen Risiko, falls sie infiziert wären, an COVID19 schwer zu erkranken. Und da mache ich mir große Sorgen. Allerdings, wenn man es aus der globalen Perspektive sieht, frage ich mich, ob wir hier nicht doch eine Krankheit der „reichen“ Welt mit gerade einmal ca. 15.000 Toten (Stand von vor 3 Tagen) haben, von denen einige ohnehin aufgrund ihres hohen Alters und diverser Vorerkrankungen in kurzer Zeit natürlich gestorben wären. Wir hatten ja auch gerade die Debatte um Sterbehilfe in Deutschland. Wie findet man dabei das richtige Maß?
Und dann: 15.000 Tote weltweit in knapp 3 Monaten, vielleicht werden es auch 30.000 oder 50.000. Das klingt erst einmal viel. Zugleich sterben 15.000 Kinder unter 5 Jahren an oftmals vermeidbaren Krankheiten (Durchfall, Lungenentzündung, während oder nach der Geburt usw..). Und das passiert jeden einzelnen Tag. Gestern, heute und auch Morgen. Seit die Corona-Krise Anfang des Jahres begonnen hat, sind bereits. 1.2 Millionen Kinder gestorben! Diese Kinder sterben aber in armen Ländern und werden von der reichen Welt zumeist ignoriert. Trotz einiger Verbesserungen in den letzten 25 Jahren sind das immer noch: über 5 Millionen Kinder pro Jahr zu viel. Für einen Kinderarzt, wie mich, ist das unbegreiflich. Wir brauchen einerseits „nur“ frisches Wasser, Impfungen, Bildung für die Eltern dieser Kinder, gesunde Nahrung, Hebammen, Pfleger und Ärztinnen usw.. Damit können Millionen von Kindern relativ einfach gerettet werden und ihr Leben in einem gesünderen Umfeld beginnen. Das ist alles bei weitem nicht so teuer, wie uns jetzt die Corona-Pandemie bzw. ein gerettetes (Senioren-)Leben kosten wird.
Wieviel ist ein Leben also wert?
Verlängern wir also lieber das Leben eines hochbetagten Rentners in einem reichen Land um noch ein paar Monate oder Jahre? Oder sollten wir nicht besser hunderte Kinder in armen Ländern oder in Flüchtlingslagern wie z.B. in Syrien, Bangladesch oder Griechenland retten? Was meinst Du als Ethiker?
OD – In diese Gemengelage aus moralischer, persönlicher Betoffenheit kann man leicht den Kopf verlieren, wenn man die größeren Zusammenhänge sieht. Das kann ich gut nachvollziehen. Es wäre auch ungesund, die eigene Position nicht ernst zu nehmen, um einzuordnen was getan werden soll. Es liegt auch nahe, im Gefühl des Schwindels nach dem ersten Strohhalm zu greifen: das ist hier so ein utilitaristisches Kalkül. Aus ethischer Sicht ist das allerdings ein Unding: wir können unter keinen Umständen über den „Wert“ menschlichen Lebens sprechen. Eigentlich geht es darum, unter den vielen Handlungsoptionen die zu finden, unter denen ich aus den richtigen Gründen das richtige tun kann. Wenn wir uns über die Gründe klar sind – „ich will helfen“, dann fragt sich: wem und wie? Im Moment der globalen Krise sehen wir auf einmal wo es überall brennt. Ich kann aber nicht überall löschen. Da anzufangen wo ich selbst wirklich etwas ausrichten kann, mit den Mitteln die ich habe, mit Herz und Augenmaß, mehr geht nicht. Wenn viele das arbeitsteilig tun, ergeben sich Räume der Gestaltung. Sind diese irgendwann groß genug, können wir vom Eingreifen in die Gestaltung und Prävention übergehen. Dann ist es an der Zeit, sich der Grundprobleme anzunehmen: Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Solidarität. Dann können deine Prioritäten zu Wort kommen: jeder Mensch, jedes Kind hat Anspruch auf Unterstützung der Existenzgrundlagen. Das entspricht unserer Würde. Bis es soweit ist, müssen wir wirklich alles daran setzen, jedem angemessen zu helfen der Hilfe braucht. Wenn uns das quält, weil es nie genügt, dann ist es das beste, die Frustration in Motivation zu übersetzen es besser zu machen. Das hört nie auf und macht gesund.
MB – Danke, das sind interessante Gedanken. Wenn es heute Nachmittag wieder raus in den Garten geht, werde ich diese mir mal weiter durch den Kopf gehen lassen.
OD – Wir sprechen uns dann morgen wieder…Salve!