COVID-19 hat einen Weckruf ausgelöst, den sollten wir hören

OD: Moin Mathias! Ostern steht vor der offenen Tür. Während deutsche Südländer die Bürger „konsequent“ isolieren und die Folgen dieser Verdrängung dort zu wachsenden Krankenzahlen führen, fühlt sich die Spannung in Berlin lebendig an. Ich höre Vogel- und Kinderstimmen durchs Fenster. Da passt es ganz gut, wenn unser Deutscher Ethikrat (DER) jetzt vorschlägt die Köpfe zu öffnen. Was hälst Du davon?

MB: Moin Ole, auch hier warten die meisten ungeduldig auf das Ende der restriktiven Maßnahmen. Der Ethikrat hat daher vollkommen Recht damit, dass eine Diskussion jetzt stattfinden muss. Wir leben ja nicht in einem autoritären Staat, auch wenn die derzeitige Lage schon ein ganz klein wenig so wirkt. Die Regierung trifft ad-hoc Entscheidungen mit wenig wissenschaftlicher Evidenz. Oppositionsparteien tauchen in der Öffentlichkeit kaum noch auf. Die Medien geben den Ton an und verbreiten mit einer enormen Geschwindigkeit das Wissen immer neuer Experten einschliesslich deren „privaten Spekulationen“, ohne sich über die teilweise widersprüchlichen Aussagen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft Gedanken zu machen. Schlagzeilen sind häufig aus dem Kontext genommen und schüren Ängste. Immer mehr Virologen werden zu Experten für die Durchführbarkeit von Fußballspielen usw. Es wird also bewusst oder unbewusst versucht, die Bürger ruhig zu stellen (Regierung) bzw. zu verängstigen (Medien), um die wichtige Zeit zum Aufbau zusätzlicher Kapazitäten im Gesundheitssystem zu gewinnen bzw. Online-Werbung zu verkaufen. Gut, das ist irgendwie alles auch nachvollziehbar. Allerdings sehnen sich viele Menschen auch nach ein wenig mehr „Normalität“, was auch immer das sein mag. Gute Führung bedeutet ja auch frühzeitig auf das einzugehen, was Menschen brauchen. Darauf vertraut und hofft man ja. Und darum brauchen wir die „Exit-Diskussion“ besser früher als später. Oder? Wie siehst Du das?

OD: Unser DER tut etwas Bemerkenswertes! Er bedenkt uns nicht mit Vorlagen der moralischen Abwägung sondern fordert den Souverän (das sind wir!) direkt zur Mitarbeit auf: Was sind die Kriterien für die nächste Phase? Worauf wollen wir hoffen? Das sind allgemeine gesellschaftliche und zugleich im Kern philosophische Fragen. Es mag stimmen, daß die letzten Wochen die Stunde der Entscheider waren, nicht der Evidenz, der Begründung und Orientierung. Jetzt ist es an der Zeit, in weiteren Zusammenhängen zu überlegen: wie wollen wir eine gesunde, wertvolle, Würde-gerechte Gesellschaft werden, welchen Beitrag soll die Verantwortung des Einzelnen und die soziale Arbeitsteilung konkret gestaltet sein? Wie stehen wir in der Welt? Nun muß sich zeigen, ob wir über egozentrische Themen wie „Lockerung“ oder „Öffnung“ hinaus denken wollen, die so etwas wie den Stand vor der Krise restaurieren möchten. Manche verbinden das mit einer Tendenz zu romantisieren, als ob es vorher gut war und nicht erst das Nachher uns belehrt, wie schlecht wir aufgestellt sind. Ganz furchtbar sind Sprachbilder, wonach man nun „wieder hochfahren“ soll, als ob Wirtschaft nichts ist als ein Aggregat von Betrieben und die Menschen nur Getriebe wären, in einer Art Mega-Atomkraftwerk. Auch und gerade die akademische Philosophie tut sich sehr schwer damit, auf einmal etwas Maßgebliches aus Verantwortung für die Wirklichkeit zu sagen, das nicht zynisch oder hohl klingt. COVID-19 hat einen Weckruf ausgelöst, den sollten wir hören. Er sagt uns: Krankheit, Klima, Kommerz, Migration, Armut, Gier und Dummheit – all diese Probleme gehören zusammen. Hoffnung kann mit einer Renaissance der demokratischen Aufbruchsstimmung verbunden sein, die das Gute unserer Verfassung ins Leben bringt. Die Kriterien für Verhältnismäßigkeit sollten es grundsätzlich erlauben, Gesundheit mit Würde zu verbinden. Allerdings: das wozu der DER aufruft, ist etwas Ungewohntes. Wir sind nicht darin geübt, Demokratie als etwas zu verstehen, das vor allem jenseits unserer Wohlfühlzone ansetzt. Ob jeder etwas mit der Aufforderung anfangen kann, die eigene Verantwortung zu übernehmen? Das ist für viele in dieser Unmittelbarkeit Neuland. Gerade deshalb finde ich diesen Aufruf des DER gut – er ist so überfällig für die Kultur unserer Demokratie wie Salutogenese für die Wirtschaft. Wir sollten uns nur nicht einbilden, daß wir das schon können. Denn sonst wären die Schulen nicht geschlossen sondern systemrelevante Orte der gesunden Demokratie.

MB: Eine gesunde Demokratie benötigt einen Leitrahmen, an dem sich die Menschen orientieren können. Die Nachhaltigkeitsagenda 2030 der Vereinten Nationen mit den SDGs bieten bereits einen solchen Rahmen. Aber wird dieser wirklich Ernst genommen? Wie wir jetzt gerade wieder einmal deutlich sehen, leben wir in einer komplexen, globalisierten Welt, die nun aus ihrem endlosen Streben nach wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand herausgerissen wurde. Es wird kein zurück zur „Normalität“ mehr geben. Inwiefern die Gesellschaften aber wirklich ihr Verhalten in Zukunft zugunsten einer gesunden und nachhaltigen Lebensweise und damit auch die Voraussetzung für eine gerechtere und solidarischere Welt schaffen werden, bleibt abzuwarten. Eine der Kernfragen wird sein: Was zählt wirklich im Leben?

OD: Friede, Freude und Frohe Ostern. Salve…