Schulen und Kinder zuerst!
MB: Moin nach Berlin! Dort hat die Leopoldina gerade einige interessante Vorschläge gemacht, damit Schritt für Schritt wieder etwas Normalität in unseren Alltag kommen kann. Als erstes wird die baldige Wiedereröffnung von Schulen und Universitäten empfohlen, da im Bildungsbereich „die Krise zum massiven Rückgang der Betreuungs-, Lehr- und Lernleistungen sowie zur Verschärfung sozialer Ungleichheit geführt“ habe. Betrachtet man die COVID-Fälle in Deutschland insgesamt und die Risikogruppen im Besonderen, so ist dieser Vorschlag sehr gut nachzuvollziehen. Aber warum wurden die Schulen eigentlich geschlossen?
OD: Moin Mathias! Das habe ich mich als Vater eines Drittklässlers im sogenannten Homeschooling auch gefragt. Es sind ja weder die Eltern im Allgemeinen noch die Lehrer im Besonderen überhaupt auf die logistischen, technischen und pädagogischen Anforderungen dieser Situation im Geringsten vorbereitet gewesen. Schon gar nicht was die Verknüpfung von Gesundheitsmündigkeit, Bildungskultur und Digitalkompetenz angeht – die wir dafür dringend bräuchten. Und dann verschiebt man das Problem einfach in die Privatwohnungen. Da fehlt es an Solidarität mit den Eltern und Lehrern und auch an einfacher sozialer Kontrolle, um den Stress nicht in häusliche Gewalt umschlagen zu lassen. Wenn man dem Tagesspiegel folgt, dann muss sich das wohl so zugetragen haben: ein Viruspriester blickte in die Kristallkugel und suchte nach Rat, an allen Orten und in der Vergangenheit. Da wurde er fündig, nämlich in den USA vor 100 Jahren. Dort verzeichnete man einen Rückgang der Infektionen mit der Spanischen Grippe, nachdem dortige Anstalten gesperrt worden waren. Deshalb seien Schulen als Virenküchen jetzt auch in Deutschland zu schließen. Wir kommen also nicht nur ohne belastbare Evidenz in der Krise zurecht sondern obendrein noch mit Rezepten aus der Zeit des ersten Weltkriegs.
MB: Dieses Argument war aber nicht das Einzige für die Schließung der Schulen und Universitäten. Systemische Analysen haben gezeigt, das Schulschließungen, zumindest wenn sie rechtzeitig erfolgen, sehr wohl die Ausbreitung eines Pandemie-Erregers „bremsen“ können. Vermutlich haben auch die ohnehin bevorstehenden Osterferien eine wichtige, insbesondere psychologische, Rolle gespielt. So konnte man erhebliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Bürgerrechte, den Bürgern wie einen verlängerten Osterurlaub „verkaufen“. Dadurch wurde durch das Pausieren von Bildung und Arbeit auch wichtige Zeit für die Wissenschaft gewonnen.
OD: Für mich sind nicht die hektisch produzierten Begründungen entscheidend sondern die offenbar völlig gedankenlose Verschiebung der Verantwortung. Trotz SARS und den Bedingungen einer hochentwickelten Wohlstandsgesellschaft haben wir die Schulen nicht in den Stand versetzt, erkennbar als Gesundheits- und Sozialkompetenz zu funktionieren. Wir können dankbar sein, wie leidensbereit gerade die am stärksten Betroffenen hiervon sind. Ihnen schuldet die Politik nun Taten. Vielleicht müssen wir noch etwas warten, ehe sich die Gremien dazu erklären mögen. Die Schulen versprechen seit Jahrzehnten den Familien und der Gesellschaft, gebildete Persönlichkeiten und mündige Demokraten hervorzubringen. Vielleicht fangen wir zum kommenden Schuljahr damit an? (Keine Bange, das war nur ein Scherz.) Das würde dann noch ins Humboldt-Jahr passen, das der gesunden Einheit von Bildung, Wissenschaft und Arbeit gewidmet ist. In Wirklichkeit denke ich, wir sollten besser die Geschichte den Historikern, die Viren den Virologen, die Kranken den Ärzten und Pflegern überlassen, damit die gesellschaftlichen Kompetenzen für Gesundheit und Bildung sich in Ruhe entfalten können. Den Weckruf der COVID-19-Krisen im Ohr, sollte es uns heute leichter fallen, die Schulen zu systemrelevanten Sozialräumen zu machen, für eine gesunde Gesellschaft. Wie aber kriegen wir den Anfang richtig hin?
MB: Das Leben ist nun einmal sehr vielschichtig. Gesundheit und Bildung sind die Grundlage für die Entwicklung. Das gilt für ein Individuum, wie für eine Gesellschaft. Lokal, national und global. Wir müssen daher weg vom traditionellen Silodenken. Natürlich sollte sich jeder, wie Du sagst, auf sein Spezialgebiet konzentrieren und sich nicht dazu verleiten lassen, generelle Empfehlungen auch für andere Bereiche medienwirksam abzugeben. So sind z.B. Virologen per se keine Experten für die sichere Ausrichtung von Großveranstaltungen. Der multidisziplinäre und transnationale Austausch ist daher enorm wichtig und wird in vielen Bereichen noch nicht ausreichend praktiziert. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz, der die Gesundheit als Grundlage hat. In Bezug auf die Schulschließungen hätte man auch Bildungs-, Verhaltens- und Risikoforscher, Epidemiologen, Mediziner, Vertreter von Lehrerverbänden, Elternvertretungen und anderen am Schulsystem beteiligten Gruppen stärker hinzuziehen können. Gemeinsam hätte man dann auch gleich über die Maßnahmen zur Wiedereröffnung diskutieren können. Gemeinsames Nachdenken und Handeln ist ja ohnehin immer besser.
OB: Warten wir ab, was am Mittwoch verkündet wird. Salve…