MB: Moin Ole. Nach der gestrigen Entscheidung der Bundesregierung und der Länder die Ausgangsbeschränkungen etwas zu lockern und einigen Läden die Wiedereröffnung zu ermöglichen, Cafés, Restaurants und Kneipen aber noch nicht, Friseuren unter Schutz die Arbeit zu gestatten, Physiotherapeuten aber wiederum nicht, werden die Kitas, Schulen und Universitäten wohl schrittweise und von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich wieder eröffnen. Frau Merkel hat die Notwendigkeit dieses Vorgehens anhand der Basisreproduktionszahl R0 gestern sehr anschaulich erklärt. Diese Zahl, die angibt wie viele Personen eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt, ist in den letzten Wochen durch eine Reihe von Maßnahmen von ca. 3 auf ca. 1 Person gesunken. Frau Merkel warnt aber, basierend auf den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts, dass durch eine zu frühe Lockerung der Maßnahmen eine erneute Erhöhung der Zahl unser Gesundheitssystem sehr schnell überlasten könne. Ein wichtiger Aspekt kommt mir hier aber zu kurz: es kommt in dieser Phase weniger darauf an, wie viele Personen jemand infiziert, sondern darum, welche Personen infiziert werden. Zum Beispiel wurde in Island gerade in einer groß angelegten Bevölkerungsstudie nachgewiesen, dass Kinder unter 10 Jahren kaum zur Verbreitung des SARS-CoV-2-Viruses beigetragen haben . Bei uns sollte das sehr ähnlich sein. Daher macht es doch eigentlich viel mehr Sinn, Kitas und Schulen wieder zu öffnen und viel mehr Aufmerksamkeit auf den Schutz von Risikogruppen, Seniorenheimen und Krankenhäusern (und deren Mitarbeiter) zu legen. Die Prioritätensetzung in der gestrigen Entscheidung ist für mich daher nicht ganz nachvollziehbar. Wie siehst Du das?
OD: Moin Mathias. Die Regierungen von Bund und Ländern haben aus meiner Sicht eine grosse Chance vertan. Sie überlassen die Deutung des Geschehens weiterhin Experten mit engen Objekt-Perspektiven auf die Gesellschaft. Strategien werden der Logistik untergeordnet, etwa wenn zum Thema Schulen vor allem über Transportwege und zappelige Kinder geredet wird, nicht über die Selbstorganisation aus Eigenkompetenz. Das führt dann im Ergebnis zu solchen Zahlen wie 800 Quadratmeter als Obergrenze für Geschäft, die den Eindruck von Willkür erwecken müssen: wer hier etwas aktiv verstehen will, ist verloren. Die Menschen werden nicht als Subjekte mit Verantwortung behandelt und ermutigt sondern in Unsicherheit und Furcht gehalten. Das ist auch eine Ansage. Fürchtet sich die Regierung vor dem Souverän? Viele Leute haben sich auf das symbolische Datum „nach Ostern“ eingelassen und vielleicht sogar gefreut, dass ihre Kooperation, Disziplin und auch Leidensbereitschaft Anerkennung finden würden. Nun könnte diese positive Spannung abreissen. Vielleicht kippt sie ins Gegenteil um, so daß am Ende doch die Rattenfänger die Oberhand gewinnen, die „immer schon gewußt“ haben, daß alles nicht wahr sei. So funktioniert Verhältnismäßigkeit nicht.
MB: Eine Vielzahl von Studien und Berichten haben ja deutlich gemacht, welche Personengruppen besonders von einer SARS-CoV-2 Infektion gefährdet sind und schwer daran erkranken können. Einzelfälle von jüngeren und nicht vorerkrankten Personen müssen natürlich auch – aber im richtigen Verhältnis – beachtet werden. Man sollte daher nicht den Fehler machen alle Menschen überall in Deutschland als gleich gefährdet einzustufen. Was spricht denn dagegen, wenn wir gruppenspezifische Prioritäten setzen und dadurch wichtige und knappe Ressourcen gezielter und effektiver einsetzen würden?
OD: Nichts, das ist ja das Thema von Public Health – als Übergangsbereich zwischen Individual- und Gemeinwohl. Aber: weder das Virus noch die Demokratie geht von Gruppen aus. Das sind grundlegende Wahrheiten: Wenn Distanz die Übertragung unterbricht und eine diagnostische Erfassung von Großteilen der Bevölkerung möglich ist, dann gibt es eine elementare Strategie, die Erfolg verspricht und Vertrauen stiftet, weil jeder Teil seinen Beitrag leistet. Überall wird vorgeschrieben: 1,5 Meter Sicherheitsabstand jenseits der eigenen „Herde“ zu halten, sonst Masken zu tragen. Dies wird streng überwacht und deutlich sanktioniert. Zugleich werden Wissen und Kompetenzen offensiv vermittelt, damit das Richtige jedem als sinnvoll verständlich wird. Der Rest ergibt sich aus der Praxis. Diese Elementar-Strategie scheitert leider – vielleicht an mangender Kreativität der Entscheidungsträger, sicher aber daran, daß die Mittel zur Umsetzung einfach nicht vorgehalten werden: weder die Ordnungsämter noch die Polizei sind angemessen ausgestattet. Wir kümmern uns ganz einfach nicht um die erste Phase der Ausbreitung – damit meine ich zwar einerseits staatliche Kontrollen, vor allem aber unsere verkümmerte Zivilcourage. Das ist übrigens bei uns nicht anders als in den USA: nur dass dort Medizinethiker sich nicht schämen, öffentlich Tips für angemessene Reaktionen auf Regelbrecher zu diskutieren.
Es geht ganz einfach um Anstand: im öffentlichen Verkehr anständig Abstand halten und aus Respekt vor Übergriffen Abstand nehmen, bei Bedarf niederschwellig korrigierend eingreifen. So dürfte die Regierung im Prinzip alles möglich machen, wenn auch mit unterschiedlich großem Aufwand, sozusagen mit ehrlichen Preisen verbunden. Sehr leicht ist es in hoch regulierten Räumen wie in Schulen, wo die Wertschöpfung für Gesundheits-Kompetenz anfängt, sehr schwer bei Massenveranstaltungen – die soll dann bezahlen wer mag. So verringert man Ansteckung und Missachtung gleichermassen. Wer dennoch erkrankt, darf sich der gesellschaftlichen Solidarität umso gewisser sein.
MB: Das stimmt, jeder mündige Bürger sollte nicht nur solidarisch sein, sondern gleichzeitig zu einem freiwilligen „Mitarbeiter“ des öffentlichen Gesundheitswesens werden (Lächeln, Hände waschen, Abstand halten…). Ich versuche ja immer schon zu vermitteln, dass jeder von uns nicht nur für seine eigene Gesundheit, sondern auch für die Personen in seinem Umfeld und auch indirekt für die Gesundheit einer Näherin in Bangladesch, den Kaffeeplantagen-Arbeiter in Mittelamerika oder die Kinderarbeiter auf der Müllkippe in Ghana, die unseren Elektroschrott auseinander nehmen, mit verantwortlich ist. Die meisten unserer täglichen Entscheidungen haben Auswirkungen auf die Gesundheit anderer, nah wie fern. Daher ist auch jeder Mensch ein Akteur der Globalen Gesundheit!
OD: Gesundheit und Verantwortung muß man eben lernen! Salve…