MB: Moin Ole, wie ist die Lage in Berlin?

OD: Moin Mathias, soweit so gut, zumindest scheinen die Fallzahlen auch hier nur noch sehr langsam anzusteigen. Bis auf einzelne Krankenhäuser (wie in Potsdam) scheinen die meisten nicht überlastet zu sein, wie so oft prophezeit. Spannend finde ich: die Zahl der Genesenen ist weltweit auf über 500.000 gestiegen, das ist ein Viertel der gemeldeten Fälle. Wie ist die Lage im Werra-Meissner-Kreis?

MB: Hier ist es sicherlich noch ruhiger. Im gesamten Kreis gibt es bei ca. 100.000 Einwohnern nur 120 Corona-Fälle und 5 Verstorbene. Im lokalen Krankenhaus gibt es fast keine Patienten mehr, da viele Fachabteilungen geplante Untersuchungen und Operationen verschoben haben. Zum Glück sind ja auch in ganz Deutschland viele Intensivstationen nicht so überfüllt wie in anderen Ländern. Gestern waren ca. 11.500 Intensivbetten frei, und „nur“ ca. 1900 Corona-Patienten an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Die Ärzte hier müssen also nicht mehr über Leben und Tod entscheiden als in Nicht-Pandemie-Zeiten. Allerdings wird ein, wie ich finde, sehr wichtiger Aspekt unserer Hochleistungsmedizin auch im Rahmen dieser Pandemie noch zu wenig beachtet: der Wille des Patienten. Ein Palliativmediziner hat dieses in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk eindrucksvoll bemängelt und die „sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung“ betont. Eine Intensivtherapie sei „leidvoll“ und das „Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden stimme kaum“, insbesondere für die älteren und bereits multimorbiden Patienten in der Coronakrise. Werden also ethische Prinzipien verletzt und die vegetative Lebenszeit von Menschen künstlich verlängert, um den Krankenhäusern durch die Belegung von teuren Intensivbetten Einnahmen in Krisenzeiten zu bescheren?

OD: Das kann man mit dem ärztlichen Blick so sehen. Da ist ja nie ganz sicher, ob die eigene Einschätzung oder kaufmännische Erfordernisse den Ausschlag geben. Die Vergütung für Intensivbehandlung liegt vielfach über der für Palliatives. Auch hier liegen die Probleme aber tiefer. Zum einen ertragen wir ohne Murren, dass Patienten als „Fälle“ pauschalisiert werden, ganz ohne COVID-19. Es ist buchhalterisch leichter den Preis eines Falles zu kalkulieren als den subjektiven Wert eines würdevollen Abschieds aus dem Leben. Das bedeutet aber gerade nicht, daß wir gesellschaftliches Handeln für Gesundheit auf Algoritmen aufbauen können, weder für präventive oder therapeutische noch für palliative Zwecke. Palliative Maßnahmen suchen nach dem passenden „Mantel“ (pallium) für den letzten Weg. Da wir uns nicht einmal beim Sterben mit den existentiellen Fragen des Lebens befassen möchten, greifen wieder die Tricks der Objektivierung. Die Angst vergeht nicht, der Sterbende verschwindet im Betrieb der Geräte, die wir einstellen können. Wenn wir als Gesellschaft lernen wollen, das zu stärken was gesund macht – einen salutogenen Ansatz also – dann wäre jetzt eine gute Gelegenheit diese Fehlstellungen zu korrigieren.

MB: Tatsächlich spielt die Palliativmedizin in der Corona-Krise weltweit wohl kaum eine Rolle. Die WHO hat Leitlinien zur Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste während der Pandemie herausgegeben. Hierzu zählen u.a. die Immunisierung, Betreuung von Müttern, die Notfallversorgung und chronische Krankheiten. Die Palliativ-Versorgung wird bisher nicht erwähnt. Müßte sie nicht ein expliziter Bestandteil der nationalen und internationalen Reaktionspläne nicht nur für COVID-19 sein? Möchten wirklich alle Corona-Patienten, insbesondere die Hochaltrigen, noch intensivmedizinisch behandelt werden, wo kurzfristige Erfolge (das Überleben) oftmals mit mittel- und langfristig negativen Folgen für die Lebensqualität einhergehen?  Warum zählt der Wille der Patienten offenbar so wenig? Warum denken wir, wir müssten uns allen ein möglichst langes Leben ermöglichen, egal mit welcher Qualität? Und warum gilt der Wert des Lebens nicht auch für die ertrinkenden Menschen auf dem Mittelmeer, die vor Armut, Hunger und Gewalt fliehen?

OD: Das solche Fragen überhaupt gestellt werden müssen, zeigt wie weit wir uns vom Menschenbild unseres Grundgesetzes entfernt haben, das auf Würde, Gerechtigkeit und Solidarität beruht. So wird ein Muster erkennbar, ein Echo auf unser gestriges Thema. Wir vertun alltäglich Chancen unsere Welt gesünder zu machen indem wir sie menschlich deuten. Für heute: ein bedrückendes Fazit.
Salve!