Wie wollen wir sein? Orientierung durch COVID-19
In den letzten Wochen wurden die maßgeblichen Anweisungen zum Umgang mit COVID-19 von Funktionsträgern und ihren Experten verfügt. Was zu kurz gekommen ist, sind Modelle, wie die oft widersprüchlichen oder undeutlichen Vorgaben in sinnvolle Praxis umgesetzt werden sollen. Jetzt kommt es darauf an, glaubwürdige, verständliche, „gute“ Orientierung zu bieten, zu der jeder selbst in Beziehung treten kann. Handlungsmodelle, Vorschriften und Protokolle sind seelenlos – der Mensch braucht menschliche Muster, um gesund für Gesundheit einzustehen. Welche Art der Orientierung hilft uns in dieser Phase, in der sich entscheidet, ob das Vertrauen, das über die ersten Wochen getragen hat, zu Einsicht für Eigenverantwortung reifen kann?
Brauchen wir Helden? „Helden“ sind Pflegekräfte schon seit spätestens 2 Jahren. Die entsprechenden Maßnahmen der Heldenverehrung blieben aufs Symbolische beschränkt, jedenfalls nicht effektiv – weder was die Arbeitsbedingungen noch die Bezahlung oder allgemeine Anerkennung betrifft. Das ist einer der Gründe für unser Dilemma, daß auch ausreichend belegbare Betten in der Hochleistungs-Intensivmedizin ohne Personal nichts nützen. Auch die plötzliche Entdeckung von Heldenmaterial unter den Kassierern in den Supermärkten hat ausser vereinzelten Schlaglichtern kaum Beachtung gefunden. Der Held als solcher ist notorisch ambivalent und taugt nicht zur verlässlichen Autorität in der Krise: Dementsprechend wird jetzt abschätzig von „Lockerungs-Helden“ geredet, die „auf Kosten des Vertrauens der Bürger in die Verlässlichkeit der Krisen-Politik“ auf zu schnelle Normalisierung drängten.
Helden sind für verzweifelte Lagen zuständig, sie distanzieren uns von uns selbst. Modelle abstrahieren und können anregen aber nicht bewegen. Vorbilder aber sind Menschen von denen wir lernen können. Das Besondere an Vorbildern ist, daß sie über ihren eigentlichen Kompetenzbereich hinaus beeindrucken, dabei aber „jemand von uns“ bleiben. Vorbild ist jemand, dem die richtige Ansprache gelingt, wenn der eine den anderen wegrempelt oder anpöbelt, wenn aus Hinsehen und Achtung Missachtung oder Übergriffe werden. Vorbildlich ist die persönliche Haltung, Konflikte in der Situation aufzulösen. Nicht aus Eigensinn oder Großspurigkeit sondern selbstlos, aus Empathie. Es ist die praktische Urteilskraft, die jemand uns voraushat und mit uns teilt, um Zivilcourage oder Solidarität zu üben, mit der wir im Vorbild Verbindung aufnehmen.
Wenn einfache Menschen, die gewissenhaft ihre Arbeit an der Kasse oder im Krankenhaus verrichten, aus heiterem Himmel als „Helden“ dastehen, dann mag die Überraschung eine Weile angenehm sein. Sie weicht jedoch der Ernüchterung, wenn sich herausstellt, daß diese Heldenweihe ein Allgemeinplatz war, der vor allem dazu dient dass sich andere gut fühlen. Wenn dem keine Taten folgen, kein Respekt, wenn sie sich doch nur wieder als „poor lonesome heroes“ wiederfinden, allein im Käfig der Kasse, ohne eigene Schutzmaske, vor rücksichtslosen Kunden, die drängeln, spucken, pöbeln: wo sind dann die Vorbilder für das Verhalten, das unsere „Helden“ schützt, unterstützt, anerkennt – anstatt sie zu verhöhnen und bloßzustellen? Der palliative Ansatz gilt für alle, aber besonders für sie. Der „Mantel“ (pallium) ist einer der Hingabe, nicht des Schweigens. Schon indem wir Worte wie „Zivilcourage“, „Hingabe“ oder „Achtung“ benutzen, fällt auf wie wenig sie in unsere Zeit zu passen scheinen. Können wir uns, bei allem Widerwillen gegen ihren vielfachen Missbrauch, auf das einfach Wahre und Gute einlassen, dass wir mit ihnen meinen?
Auf der anderen Seite geht es darum, Distanz zu halten. Das ist eine soziale Grundkompetenz, die mit der Leiblichkeit des Menschen verbunden ist. Auf dem natürlichen Wissen um den anständigen Abstand, aus dem Empfinden der Intimsphäre und Schamgrenze ermitteln wir immer neu und ganz ohne Erinnerung durch virale Risiken, was uns jetzt auf die Spur bringen kann. Sich die Hände zu reichen, ist eine Verbindung von Abstand nehmen und versuchsweise Nähe einzugehen. Handlungen bei denen partikulare Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden, sind traditionell in den Riten, Symbolen und Umgangsformen unserer Kulturen vorgeschrieben. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir Störungen sozialer Regeln aus vermeintlicher Großzügigkeit tolerieren, wenn dadurch die Haltung eigener Sozialkompetenzen nicht mehr geübt wird. Zwischen dem ratlos-gleichgültigen, „Wie sag ich’s meinem Kinde?“, dem gedankenlosen Anbringen irgendwelcher Gesichtshüllen und dem übergriffigen Dogmatismus des Blockwarts kann jeder seinen passenden Platz einnehmen: ob es um den Umgang mit Masken geht oder um das Interpretieren der Abstandsregeln.
Wie Vorbilder entstehen und funktionieren, liesse sich am Beispiel Sportunterricht sehen, würde Schule nicht zur Problemzone sondern zur Schatzkammer für soziale Gesundheit gemacht: gerade für die Kleinsten ist dies, bei angemessenen geschulter und ausgestatteter Anleitung, der ideale Rahmen um alles zu lernen was es braucht. Auch den Umgang mit Ausnahmen, das Verstehen von Differenzierung ohne Diskriminierung, von Verantwortung und Rücksicht, von Defiziten, Leistung und Freude. Im Austausch zwischen individuellen sozialen Leib-Räumen verschmelzen abstrakte Anweisungen mit eigener Wahrnehmung, achtsamem Hinsehen und Reflexion zum Verstehen: worum es konkret geht, wenn man sich und anderen schützen soll. Hier bilden sich Vorbilder ohne Heldenpose.
An den Übergängen entscheidet sich alles – wir haben die Wahl: Held oder Vorbild, Schulen für Betreuung oder Bildung, Technologie für Menschen oder Menschen für Technologie, Ernährung für Leben oder Konsum, Kliniken für Krankheit oder Gesundheit, Gesellschaft für Solidarität oder Egoismus, Wirtschaft für Wertschöpfung oder Gier, Politik für Ordnung oder Chaos, Staatshandeln für Mündigkeit oder Vormundschaft, Wissenschaft für Freiheit oder Kennzahlen, Kultur für Zuversicht oder Angst? Geben wir Verantwortung ab oder üben wir gesellschaftliche Arbeitsteilung, so daß Probleme nicht nur ausgelöst und verschoben sondern gelöst werden? An der Orientierung, die wir einschlagen, werden wir sehen was wir sind. Diese Aufstellung ist unvollständig. Sie macht aber klar, wie groß, breit und tief die Probleme sind, die wir in den vergangenen Jahrzehnten aufgehäuft haben, während zugleich in anderen Teilen der Welt neue Maßstäbe für zivilisatorischen Fortschritt gesetzt werden – an denen auch die „alte Welt“ nicht mehr vorbei kommt. Wir können nur bestehen, wenn wir uns unter den neuen geostrategischen Realitäten weiterentwickeln.
Standards schreiben klare Muster vor – sie müssen durch Kontrolle überwacht und durch Sanktionen bewährt sein. Verhältnismäßigkeit verlangt, die Evidenz zu sichern und dann dabei gleiches gleich zu behandeln. Was sind die Standards für Interventionen für Gesundheit? Warum gelten aufgrund dessen, was wir mittlerweile zu COVID-19 im Vergleich zu anderen Problemen wissen, gerade diese Standards? Bleiben die neuen Standards maßgeblich, als Korrektiv, wenn diese Krise durchlaufen ist? Diese Vergewisserung müssen wir jetzt leisten.
Das bedeutet nicht endlose Diskussionsrunden. Im Gegenteil: solche Stellvertreter-Vorstellungen führen weder Modelle noch Helden vor und in der Regel auch keine brauchbaren Vorbilder. Ich finde es schwierig, Entscheidungsträgern mein Leben anzuvertrauen, die nicht zwischen Krieg und Krise oder zwischen Held und Vorbild unterscheiden können. Wir dürfen Politik und Experten bei dieser Frage nicht allein lassen! Versuchen wir uns alle daran, Vorbild zu sein, damit die Standards unserem Leben dienen!
Das bedeutet nicht endlose Diskussionsrunden. Im Gegenteil: solche Stellvertreter-Vorstellungen führen weder Modelle noch Helden vor und in der Regel auch keine brauchbaren Vorbilder. Ich finde es schwierig, Entscheidungsträgern mein Leben anzuvertrauen, die nicht zwischen Krieg und Krise oder zwischen Held und Vorbild unterscheiden können. Wir dürfen Politik und Experten bei dieser Frage nicht allein lassen! Versuchen wir uns alle daran, Vorbild zu sein, damit die Standards unserem Leben dienen!