OD: Moin Mathias, die Berliner Zoos haben wieder aufgemacht. Wie frisch geschlüpfte Küken, staksen wir aus der Abgeschlossenheit und tasten uns halb blind an das heran was wieder geht: für Bildung und Freude am Leben. Die Zooleitung fährt auf Sicht und verläßt sich auf verantwortungsbewußte Gäste. Ein starkes Symbol!
MB: Das ist eine gute Entwicklung. Nach dem wochenlangen „Lockdown“ strömen die Menschen zumeist vorsichtig nach draußen und werden auch sportlich wieder aktiver. Da passt es auch gut, finde ich, dass bald wieder Fußball gespielt werden soll, zumindest in der Form von sogenannten „Geisterspielen“. Auch wenn wir Fans es vermissen werden selbst mit Freunden im Stadion zu stehen, gemeinsam lautstark die Mannschaft anzufeuern, ein Bierchen zu trinken und die besten Fischbrötchen der Bundesliga zu futtern (bei St. Pauli am Hamburger Millerntor, wo sonst!), diese Spiele sind wichtig für die Gesellschaft. Und ein weiterer Schritt in Richtung „neue Normalität“.
OD: Diese Geisterdebatte hat es wirklich in sich. Dass wir sie überhaupt zulassen und führen, weist auf Fehlhaltungen hin, an die wir uns, vor COVID-19, gewöhnt hatten. Nun aber gehören sie auf den Prüfstand, wenn wir uns fragen: wollen wir mit allem so weitermachen als gäbe es nichts Wichtiges zu lernen?
MB: Warum soll denn Profifußball eine Fehlhaltung sein? Natürlich sollte dort der Einfluss des Geldes deutlich zurückgefahren werden. Durch die Pandemie und die folgende Weltwirtschaftskrise wird das sicherlich passieren, da Sponsorengelder weniger werden. Wir als Zuschauer haben auch keine Lust mehr gelangweilten Millionären beim Gekicke zuzusehen, weil so manch 20-jähriger „Profi“, der bereits Millionen verdient, denkt, er habe jetzt den Zenit seiner Schaffenskraft bereits erreicht. Fußball ist Unterhaltung für die Massen und die ist als Ablenkung gerade in dieser Zeit wichtig. Du kannst als Nicht-Fußballfan natürlich auch Covid-Talkshows, wenig tiefgründige Filme oder eine unerschöpfliche Anzahl an Krimis und Serien mit Mord, Totschlag und Misshandlungen Dir anschauen. Da ziehe ich den „Fußball-Zirkus“ definitiv vor.
Wie siehst Du das?
OD: Der Zirkus spielt seit der Antike eine wichtige Rolle in der Gesellschaft: Amüsement zerstreut, lenkt ab, schwächt den Eigensinn der Bevölkerung. Das Carne-Vale verband die Illusion von Unbeherrschtheit mit dem Schutz der Macht vor Kritik und Veränderung. Heute profitieren viel mehr Menschen als je zuvor von diesem System, es bleiben aber doch viel zu wenige, für eine gesunde, gerechte Welt, sogar im reichen Deutschland. Zirkus und Karneval haben sich gewandelt. Die Arenen sind medial pluralisiert, verbinden die dauernde soziale Isolation mit weltweiter Vernetzung. Wir amüsieren uns vor Langeweile zu Tode und finden Überbrückung im Rausch. Abgrenzung und „soziale Distanz“ kann das entweder weiter verstärken, wenn die Sucht überwiegt. Oder sie kann uns daran erinnern wie sich das Wichtige anfühlt, wenn wir gesund sind. Das Gespür für menschliche Werte, an die wir uns als abstrakte gewöhnt haben, wird real und wahr. Der Profizirkus ist als Ablenkung von dieser Chance auf Besinnung das falsche Signal. Jetzt ist Konzentration auf Arbeit am Umbau angesagt.
MB: Das sehe ich nicht so. Konzentration und Ablenkung widersprechen sich nicht, solange sie sich aus dem Weg gehen. Sie brauchen aber einander. Ohne Ablenkung und Entspannung ist der Mensch nicht fähig sich dauerhaft zu konzentrieren und leistungsfähig zu sein. Gerade in Zeiten großer Belastungen, Einschränkungen und gesundheitlicher Gefahren.
OD: Praktische Einwände gelten außerdem: Mit der Öffnung des Fußballkommerz verbunden wären regelmäßige Tests. Wie bei Masken sind die Kapazitäten begrenzt. Verhältnismäßigkeit gebietet andere Prioritäten für Zugang zu solchen Ressourcen. Verdachtspatienten und medizinisches Personal haben Vorrang für PCR-Tests mit einem schnellen Ergebnis; dann kommen die „Systemrelevanten“ und mögliche Überträger. Diese Lehre sollten wir festhalten: in der zweckdienlichen Ausstattung der robusten Basis-Infrastruktur erkennen wir die wirklichen Prioritäten unserer Gesellschaft. Bislang zählt dazu offenbar nicht die Gesundheit oder die Bildung. Wir hatten das ja schon: es ist die Stunde der Gesundheit und der Bildung.
MB: Diese Einwände teile ich nicht. Natürlich müssen Prioritäten in Bezug auf die Ressourcen gesetzt werden, auch wenn diese momentan maximal aufgestockt werden und in Deutschland ohnehin kaum ein Mangel, eher ein Verteilungsproblem bestand. Inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, junge und gesunde Fußballprofis, die nicht zu einer Risikogruppe gehören, ohne Symptome auf das Virus zu testen, sollte hinterfragt werden. Denn das würde wirklich ein falsches Zeichen setzen und auf vermeintliche Privilegien für bestimmte Bevölkerungsgruppen hinweisen. Zudem geht jeder Spieler ja auch freiwillig auf den Platz, wohlwissend, dass ein Gegenspieler ihm in den nächsten 90 Minuten ein Bein brechen kann ohne dafür vor einem Gericht angeklagt zu werden. Das Risiko für einen Fußballspieler sich bei einem Spiel zu infizieren und dann auch noch schwer an COVID zu erkranken, ist verglichen damit, extrem gering. Also: Keine (unzweckmäßigen) Privilegien für Fußballspieler.
OD: Zweckwidrige Privilegien zu alimentieren würde ein verheerendes moralisches Signal senden. Ich gebe aber zu, daß diese Ansprache vielen heute fremd ist. Wir haben nicht gelernt, Autorität zu verstehen, so dass sie uns gut tut. Auch da müssen wir besser werden: beim Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit!
MB: Was meinst Du damit?
OD: Am Anfang der COVID-19-Krise haben einige Spieler medienwirksam auf einen Teil ihrer Gehälter verzichtet oder für gemeinnützige Zwecke gespendet – allerdings bleibt der soziale Mehrwert bislang unter der Wahrnehmungsschwelle. Auf keinen Fall taugen diese sauberen Helden zu Gladiatoren, schon gar nicht als Vorbilder. Wie unsere priesterhaften Medienvirologen verkörpern sie eine Stelle im frivolen Spiegelkabinett der Verhältnisse, in denen uns COVID-19 so unvorbereitet erwischen konnte, allerdings ohne selbst Teil der möglichen Zukunft zu sein. Diesen Teil kann ein Sport allerdings einnehmen, der für Gesundheit und Gemeinschaft Wert stiftet. Geistersport gehört nicht in die Welt der Gesunden. Er ist nicht von anderen Unterhaltungsbranchen zu unterscheiden, die Shows vermarkten und eine Wertschöpfung ausbeuten, die gut ohne sie auskommen kann.
MB: Geisterspiele sind sicherlich nicht auf ewig sinnvoll, das Spiel lebt nun einmal von der Stimmung im Stadion. Dabei geht es aber im Gegensatz zu den Fernsehübertragungen auch weniger um den Kommerz. Jeder einzelne Besucher im Stadion hat sein persönliches Erlebnis, durchläuft Emotionen, erlebt das Gemeinschaftsgefühl und natürlich auch eine Ablenkung vom Alltag. Es geht dabei viel weniger um die Spieler auf dem Platz, die kommen und gehen, tragen mal gelbe Schuhe, mal rote, haben die Haare schön oder auch nicht, und tragen fast alle mittlerweile merkwürdige Unterarm-Tattoos, die somit keinerlei Aussagekraft mehr haben. Spieler können (meist kurzfristig) Helden sein. Vorbilder sind sie schon lange nicht mehr. Allenfalls für präpubertierende Jungs. Aber das müssen sie auch gar nicht. Sie sollen Teamgeist zeigen, sich für ihren Verein einsetzen und uns unterhalten, denn dafür werden sie meist recht gut bezahlt. Vielleicht kommst Du einfach mal mit ins Stadion…
OD: Salve….