Auf der Suche nach einer global gesunden Wissenschaftskultur

Wissenschaftliche Forschung zu Gesundheit und Medizin ist weit mehr als eine akademische Beschäftigung mit Daten. Sie muss sich nicht nur dafür rechtfertigen, wie sie ihre Finanzen und fachlichen Standards organisiert. Es geht immer auch um soziale Güter, um Leben, Leiden und das Verstehen: was es bedeutet ein gesunder Mensch zu sein. Fehler im Labor oder am Schreibtisch beeinträchtigen nicht nur die Qualität der publizierten Ergebnisse, sie beschädigen auch die Grundlagen des Vertrauens in die Wissenschaft. Das bedeutet besonders für Länder, deren Infrastrukturen für Wissenschaft, Forschung und Medizin sich im Aufbau befinden, dass die Vorbildfunktion der etablierten Modelle in Frage gestellt werden kann.

Auch die im März 2019 neu gegründete Forschungsabteilung der WHO hängt von einer gesunden und widerstandsfähigen Wissenschaftskultur ab. Dies gilt umso mehr als diese neue „WHO Science Division“ nach eigener Aussage ein „angesichts ihrer herausragenden Rolle überraschend kleines Budget“ verwaltet. Da diese neue Struktur angelegt ist, „Kompetenzen für Gesundheitssysteme aufzubauen“, ist die WHO auf die Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit des inter- und transdisziplinär gewonnenen externen Wissens angewiesen. Das gilt auch, wenn man berücksichtigt, dass dieses Mandat faktisch - entsprechend der allgemeinen „Division of Science Policy and Capacity-Building“-Strategie der UNESCO - doppelt eingegrenzt ist: erstens auf die Entwicklung individueller Fähigkeiten (capacity) im Unterschied zum systemischen Vermögen (capability) [vgl. Weltbank]; zweitens auf internationale Dimensionen der individuellen und öffentlichen Gesundheit im Unterschied zur trans-disziplinären Globalen Gesundheit. Damit ist die WHO für ihre Kernaufgaben sowohl inhaltlich als auch methodologisch von der Zuarbeit anderer Einrichtungen und Ansätze abhängig.

 


 

Dementsprechend besteht Anlass zu Sorge, wenn aus der Mitte der Wissenschaften ein wachsendes Bewusstsein beschrieben wird, „dass die aktuellen Belohnungskriterien nur von begrenztem Wert sind, die Integrität der Forschung nicht fördern und sogar als perverse Anreize wirken können“. So steht es im Entwurf eines „Manifestes zur Einschätzung der Wissenschaftler: Festigung der Forschungsintegrität“, das für die Hongkonger „Sechste Weltkonferenz zur Forschungs-Integrität vorbereitet wird, um dort im kommenden Juni verabschiedet zu werden. Die Veranstaltung wird nicht nur von Institutionen der Forschungsförderung (darunter die DFG), Wissenschaftsverbänden (darunter EMBO) und Einrichtungen für die Integrität der Forschung (u.a. ORI, COPE, SRCR) unterstützt sondern auch von namhaften Universitäten und führenden Publikationsunternehmen (z.B. Springer Nature, The Lancet, Elsevier, JAMA), die ihrerseits zu den Adressaten dieser Sorgen gehören.

Der Bedarf an einer Neubesinnung auf eine ethisch seriöse Wissenschaftskultur unter Bedingungen des 21. Jahrhunderts wird nicht zufällig im südchinesischen Hongkong besonders lebendig empfunden: an diesem Ort verkündete der Biophysiker He Jiankui Ende 2018 die Geburt zweier Kinder, deren Erbgut mit Hilfe des CRISPR-Verfahrens manipuliert worden sei, ein Verstoß gegen die ethischen, moralischen und rechtlichen Konventionen, der in seinen Dimensionen mit der Durchsetzung der IVF-Technologie durch Robert Edwards Mitte der 1970er Jahre zu vergleichen ist, auf die He sich ausdrücklich zur Rechtfertigung beruft. Nun tragen vor allem die wichtigsten Hongkonger Universitäten diese Konferenz, mit dem Anspruch, die weltweiten Standards für die Forschung zu sichern.

 


 

Hinweise auf Noxen an der Quelle wissenschaftlicher Wertschöpfung sind nicht neu (vgl. die Kampagne zur Sicherung der Qualität internationaler Forschung (DORA)). Spätestens seit der Serie des Lancet zur Verschwendung“ von Ressourcen in der Medizinforschung  sind grundlegende Fehlsteuerungen in den maßgeblichen Strukturen der Spitzenforschung aktenkundig und für jeden Experten zugänglich. Die klare Benennung der Probleme aus der Wissenschaft selbst hat allerdings bislang wenig Gehör gefunden und keinen sichtbaren Eindruck auf die Verantwortlichen im Betrieb Forschungs-Politik und -Industrie gemacht. Wenn Arbeiten schon so angelegt sind, daß sie zu bestimmten Absichten die Signifikanz von Forschungsergebnissen verfälschen (z.B. durch „P-hacking“) oder bewußt irreführend „das Aufstellen von Hypothesen nach dem Bekanntwerden von Ergebnissen“ betreiben („HARKing“), dann sollte sich die Wissenschaft ebenso wie die öffentliche Hand fragen, welchen Wert derartige Betrügereien haben können, die bislang offenbar aufgrund ihrer Subtilität, Mikrodimensionalität oder fachlichen Esoterik als eine Form des Kavaliersdeliktes gelten durften. Sobald diese Einschätzung angepaßt wird, droht der Vertrauensvorschuß in die Selbstregulierung der Wissenschaft als primär Erkenntnis-orientiert in Mißtrauen und Ablehnung eines als Auftragsforschung verstandenen Betriebs umzuschlagen.

Dabei geht es offensichtlich nicht nur um internen Handlungsbedarf, wenn die organisierte Wissenschaft „fragwürdiges Verhalten belohnt und falsch an die Bedürfnisse der Gesellschaft anpaßt, indem sie die Ursachen für die Krise der ausbleibenden Reproduzierbarkeit und die unbefriedigende Qualität wissenschaftlicher Publikationen nicht damit im Zusammenhang sieht“. Dies ist extrem folgenreich, denn Wissenschaft geht immer auch aufs Ganze der Erkenntnis, niemals allein auf die aktuell thematisierten Probleme. Auch ethisch wäre eine Forschung inakzeptabel, die sich nicht im Sinne der Integrität und Verantwortung vom Standard der zurechenbaren Mitwirkung und Akzeptanz (adherence) der Wissenschaft leiten läßt, sondern nur Vorschriften von Institutionen oder Auftraggebern ausführt (compliance) (vgl. Döring 2008: „Ordnung und Orientierung in Chinas Bioethik: Zur Vermittlung von Governance und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen“, und Döring 2016: „Integrity as an Indicator in Technology Assessment. Towards a framework to connect motivational and organizational extensions of quality assurance”)

 


 

Für die anstehende Entwicklung einer anspruchsvollen und seriösen Globalen Gesundheit wären dies schlechte Voraussetzungen. In den transnationalen und multidisziplinären Arbeitszusammenhängen, die für die Forschung der Globalen Gesundheit besonders relevant sind, ist die Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens der Wissenschaftler aus verschiedenen Fachgebieten und die Sicherung der Integrität des Systems entsprechend hoch. Wenn der Eindruck verbreitet wird, Forschung sei nur das Ergebnis mehr oder weniger kluger Manipulation von Menschen und Algorithmen, steht die Glaubwürdigkeit, die Ethik, die demokratische und wissenschaftliche Basis einer verantwortungsvollen Wissenschaft in Frage. Ihr salutogenes Potential ist dann beschädigt. In einer solchen Verfassung unterminiert der Forschungsbetrieb den Wert der Forschung für Gesellschaft, Politik und Industrie. Dies schadet der Aufklärung und dem Glauben an die Vernunft überhaupt und kann zu unübersehbaren Fehlentwicklungen auf Kosten der weltweiten Volkswirtschaften führen.

Die ehrliche Benennung solcher Probleme aus den Reihen der Wissenschaft kann ein erster Schritt zur Veränderung sein, auch wenn (1) die Selbsterhaltungskräfte des mit den genannten Fehlstellungen etablierten globalen Betriebs, der, sowohl materiell als auch durch Gestaltungsmacht von Ehrungen und Hierarchien, vom jetzigen Status teilweise profitiert und (2) die praktischen Schwierigkeiten, eine Mega-Forschungsinfrastruktur mit weltweit ca. acht Millionen Vollzeit-Forschern in vivo umzusteuern, dies zu einer Herkules-Aufgabe machen. Deshalb setzen die Empfehlungen des Manifests pragmatisch an: bei Verbesserungen des derzeitigen Systems der Anreize und Belohnungen für Fakultäten und für Ergänzungen des Curriculums, um die Integrität der Forschung zu verbessern. Damit legen sie die Verantwortung in die Hände der einzelnen Wissenschaftler und Institutionen. Zugleich betont der Weg über öffentliche Foren die Dringlichkeit des Anliegens: es geht um die Grundlagen der Wissenschaft, die auch nach dem politischen Willen Deutschlands und der EU noch enger mit der Gesellschaft verknüpft werden soll.

Der Weg, den die Organisatoren wählen, ist vorbildlich: sie suchen den öffentlichen Diskurs und laden Interessierte ein, den vorliegenden Entwurf des Manifests zu kommentieren. Damit bringen sie das Thema gesunde Forschung in den öffentlichen Raum, in den es gehört. Hier trifft man dann auf weitere, bekannte Probleme der Wissenschaftskommunikation und der sinnvollen Rolle von Wissenschaft in arbeitsteiligen Gesellschaften. Eigentlich sollte es vor allem darum gehen, zuverlässige und gut aufbereitete wissenschaftliche Erkenntnisse für eine gesunde Weltgesellschaft fruchtbar zu machen. Eine der wichtigsten und oft unterschätzten Ressourcen der Wissenschaft ist Zeit. Wie es aussieht, braucht die Forschung eine Phase der Selbstbesinnung, um sich für ihre baldige Erneuerung aufzustellen. Denn das 21. Jahrhundert, dessen transnationalen, multi- und interdisziplinäre Herausforderungen sie endlich gerecht werden sollte, hat längst begonnen:

Wir brauchen eine global gesunde Wissenschaftskultur für höchstmögliche Qualität der Forschung, Transparenz und Verantwortung.