Pandemienachsorge – Migrant_innen und Geflüchtete mitdenken
Ein Beitrag von Ernesto Lembcke, MSc Public Health
Der Historiker Heinrich Winkler fordert zu Recht einen „Corona Soli“, da es in weiten Teilen der Gesellschaft zu großen materiellen Herausforderungen kommen wird. Die aktuelle COVID-19 Krise stellt noch stärker die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft heraus, welche strukturell verankert sind. Letzteres wird nachfolgend am Beispiel vom Zugang zur angemessenen Gesundheitsversorgung für Migrant_innen und Geflüchtete eruiert.
Deutschland ist nicht nur führend in der medizinischen Forschung, sondern wird momentan weltweit für den vorbildlichen Umgang mit der Pandemie gelobt. Auch vom Vorreiter der sozialen Sicherung ist zu erwarten, dass hierzulande das öffentliche Gesundheitswesen die gesamte Bevölkerung umfasst, und somit allen Personengruppen einen angemessenen Zugang zu gesundheitlicher Prävention und medizinischer Versorgung bietet. Für die einheimische Bevölkerung ist dies weitestgehend der Fall, wohingegen die migrantische Bevölkerung mit einer fragmentierten, kurzsichtigen und bürokratischen Versorgungslandschaft konfrontiert ist. Gerade Migrant_innen und Geflüchtete sind aufgrund ihres sozialen, kulturellen oder rechtlichen Status gewöhnlich vom öffentlichen nationalen Gesundheitssystem ausgeschlossen und während Gesundheitskrisen wie dieser am stärksten gefährdet.
Wie gestaltet sich der Zugang zu Gesundheit für die migrantische Bevölkerung?
Die migrantische Bevölkerung in Deutschland ist eine heterogene Gruppe, die EU-Bürger_innen, anerkannte Flüchtlinge, Asylbewerber_innen und illegal Eingewanderte umfasst. Je nach Status variieren die gesundheitlichen Leistungen, die sie erhalten. Migrant_innen aus dem europäischen Ausland und anerkannte Flüchtlinge haben einen rechtlichen Zugang zum Arbeitsmarkt, wodurch der Zugang ins nationale Gesundheitssystem erleichtert ist. Etwas schwieriger gestaltet es sich für Geflüchtete. Die gesundheitliche Versorgung für Geflüchtete ist hierzulande durch mehrere Gesetzestexte zwar angeordnet, aber ihre alltägliche Verwirklichung kann sich je nach Fall und Bundesland für den/die Hilfesuchende/n erschweren. Für die gesundheitliche Versorgung in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts sind die einzelnen Bundesländer zuständig. Gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz begrenzt sich der Behandlungsrahmen auf Impfungen, Behandlung für Schwangere und für Menschen mit „akuten Krankheiten und Schmerzzuständen“. Andere Leistungen sind nur „im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit“ vorgesehen. Hierbei variiert die bürokratische Art und Weise wie geflüchtete Personen ihre Leistungen erhalten können. Einige Bundesländer folgen dem Bremer Modell, wodurch Asylbewerber eine Krankenkassenkarte erhalten mit der die Abrechnung der Leistungen nachdem Asylbewerberleistungsgesetz erfolgt. Dagegen ist in anderen Bundesländern das Einholen eines Berechtigungsscheines notwendig, der durch die zuständige Behörde bzw. von den Erstaufnahmeeinrichtungen vor Ort ausgehändigt werden. Kritisch hier ist, dass Sachbearbeiter, also medizinisch ungeschultes Personal, eine erhebliche Entscheidungsgewalt über medizinisch erforderliche Eingriffe haben. Dadurch kann es zu Verzögerungen von Eingriffen oder Therapien kommen, die die Lebensqualität von denen vermindert, die bereits viel erlitten haben. Das gestattete Leistungspaket für Asylbewerber_innen schmälert die Versorgungsqualität im Vergleich zu anerkannten Flüchtlingen oder Hartz-IV-Empfängern, welche normale Mitglieder in der gesetzlichen Krankenkasse sind.
Nach Ablauf von 15 Monaten liegt es in der Verantwortung der geflüchteten Person selbst, sich um eine Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse zu kümmern. Viele Faktoren können dazu führen, dass sich Personen nicht rechtzeitig darum bemühen. So kommt es zu Versorgungslücken, die später zu erheblichen finanziellen Belastungen führen. Ein erfolgreicher Übergang in das nationale Gesundheitssystem ist demnach stark abhängig davon, wie gut sich die geflüchtete Person damit auskennt und darin selbstständig zurechtfindet.
Was verschärft sich durch die aktuelle COVID-19 Krise?
Dass besonders Geflüchtete von der aktuellen COVID-19 Krise betroffen sind, wurde durch die internationalen Meldungen über das griechische Flüchtlingslager in Moria bekannt. Die dort vorherrschenden Umstände boten einer Ausbreitung des Virus einen fruchtbaren Boden, denn durch mangelhafte hygienische und medizinische Versorgung waren die Bewohner_innen dort unvorbereitet dem Infektionsrisiko ausgesetzt. Doch auch in Deutschland, wo die COVID-19 Situation laut Gesundheitsminister Spahn als „beherrschbar“ gilt, mehren sich Berichte über die unzureichenden Schutzmaßnahmen in Gemeinschaftsunterkünften für geflüchtete Personen.
So zum Beispiel in der Landesaufnahmeeinrichtung (LEA) im baden-württembergischen Ellwangen. Durch das Leben auf engstem Raum kann Selbstisolation hier nicht praktiziert werden. In der LEA Ellwangen leben laut Mitarbeiteraussagen fünf Personen in einem Zimmer zusammen. Auch wurde beklagt, dass es in der LEA an Desinfektionsmittel mangelte. Mitte April waren somit 275 von den 560 Bewohner_innen mit dem Virus infiziert. Dies ist aber kein Einzelfall, welches zum Beispiel durch den Protest von Bewohnern der Bremer Erstaufnahmestelle Lindenstraße aufzeigt. Dort sind von den 374 Bewohner_innen bereits 120 bestätigte Corona Fälle, wodurch die mangelhaften Schutzmaßnahmen in der Einrichtung offensichtlich werden.
Da momentan Ämter und Gemeinschaftseinrichtungen nur eingeschränkt funktionieren, verschärft sich für Geflüchtete, die sich länger als 15 Monate in Deutschland aufhalten, die Gefahr, dass sich die Aufnahme ins nationale Gesundheitssystem verzögert oder ausbleibt. Die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltstitel ist durch die aktuelle Krise stark beeinträchtigt, da diese auf den öffentlichen Gesundheitsdienst und die Angebote von Wohlfahrtsverbänden angewiesen sind. So besteht besonders jetzt die Gefahr, dass lebenswichtige Therapien unzureichend angeboten oder gar ganz ausgesetzt werden.
Darüber hinaus werden besonders Migrant_innen von den sozioökonomischen Folgen der Pandemie, deren dramatische Ausmaße sich bereits andeuten, betroffen sein. Die Ausgangsbeschränkungen trafen besonders den prekären Arbeitsmarkt wie z. B. dem Gastgewerbe, der Transportwirtschaft und der Pflegewirtschaft, in der Migrant_innen häufig tätig sind. Ihr unsicherer Aufenthaltsstatus sowie administrative und soziale Hürden, die es bei der Aufnahme von Arbeit zu überwinden gilt, machen Migrant_innen verletzlich für prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Ausbeutung, schlechte Arbeitsbedingungen und Lohndumping sind hier an der Tagesordnung.
Geflüchtete Personen hingegen sind rechtlich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, und somit von staatlichen Hilfeleistungen abhängig. Beide Personengruppen sind aufgrund ihrer oft prekären Arbeitsverhältnisse darauf angewiesen, auch im Krankheitsfall weiter zu arbeiten, wobei sie damit ihre eigene Gesundheit und die der Allgemeinheit gefährden können. Deshalb müssen die Bedürfnisse und Versorgungsschwierigkeiten migrantischer Gemeinschaften in den Vordergrund treten, um dieser Pandemie Einhalt zu gebieten.
Deutschland hat bereits 1976 das Recht auf Gesundheit anerkannt. Wie aber diese Ausführung aufgezeigt hat, ist ein gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht für alle gegeben. Es bedarf daher dem politischen Willen, Geflüchtete und Migrant_innen während dieser Pandemie im Bereich der öffentlichen Gesundheit nicht außer Acht zu lassen. Die Realisierung einer intersektoriellen Gesundheitspolitik ist entscheidend, damit die Gesundheit benachteiligter Gruppen in den Entscheidungen aller Politikbereiche mitgedacht werden und ihren Bedürfnissen Gehör verschafft wird. Es bleibt zu hoffen, dass nach der Pandemie die Gesundheit der gesamten Bevölkerung im Vordergrund von politischen Entscheidungen steht.
(Hinweis: Dieser Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.)
Ernesto Lembcke schloss sein Studium an der London School for Hygiene & Tropical Medicine mit einem MSc in Public Health ab. Nach seiner Tätigkeit als Gesundheitsförderer in Mosambik und Peru arbeitete er für die GIZ in Kenia und beriet die Regierung in Fragen der Gesundheitspolitik. Derzeit arbeitet er für die International Organization for Migration in Berlin.
Ernesto Lembcke graduated from the London School of Hygiene and Tropical Medicine with an MSc in Public Health. After working as a health promoter in Mozambique and Peru, he worked for GIZ in Kenya and advised the government on health policy issues. He currently works for the International Organization for Migration in Berlin.