In Chinas Metropole Wuhan, die als Ausgangspunkt der COVID-19-Pandemie gilt, fand vom 25. bis 31. Oktober 2020 die 15. Internationale Genomik-Konferenz statt (ICG-15). Unter dem Motto „OMICS for ALL“ lautet das Thema in diesem Jahr „Omics and Global Health“. Die vielfache Symbolik des Ortes wurde entsprechend breit gewürdigt: durch eine transdisziplinäre Öffnung der Themen, durch die Betonung medizinischer, sozialer und moralischer Gesundheitsfragen, durch die Einbeziehung lokaler Akteure und durch intelligente Nutzung internetgestützter Konferenz- und Kommunikationsformate für weltweite Teilnahme.
Damit ging eine riskante, optimistische Strategie auf, die von den Veranstaltern bereits am 8. April 2020 öffentlich gemacht worden war, sobald Wuhan die strengen Maßnahmen der stadtweiten Isolation aufhob. Nach einer weitgehenden Rückkehr zur Normalität in China konnten nun Wissenschaftler aus aller Welt über Lehren aus der Krise sprechen, teils im Präsenzraum vor Ort, teils virtuell. Es wurden neueste Forschungsstände aus den Bio- und Gesundheitswissenschaften erörtert, Grundlagen der globalen Zusammenarbeit in Forschung, Bildung und Ethik diskutiert. Stand der Technik und Fortschritte in der Technologieentwicklung bis hin zu Big Data und Biobanking wurden mit Blick auf die Voraussetzung nachhaltiger globaler Entwicklung diskutiert.
Besondere Schwerpunkte setzten übergreifende Fragestellungen. Unter Federführung des Instituts für Globale Gesundheit Berlin widmeten sich 13 renommierte Wissenschaftler aus den USA, China, Europa, Kanada und Australien inter- und transdisziplinär Fragen der Grundlagen des Wissenschaftssystems als Träger gesellschaftlicher Verantwortung. Über drei Stunden diskutierten sie im Rahmen einer Doppelsitzung symptomatische Fehlentwicklungen wie dem mit dem Namen He Jiankui verbundenen CRISPR-Skandal, dem Versagen der Verantwortlichen im Umgang mit COVID-19 im Blick auf kommende Pandemien, und dem Beitrag potentieller Innovationstreiber wie OMICS und Global Health zu einer grundlegenden Reform der Wissenschaft- und Gesundheitssysteme.
Dabei wurde in ebenso fachkompetent wie leidenschaftlich vorgetragenen Beiträgen besonders die Fehlentwicklung des Forschungsbetriebes deutlich gemacht. Der bekannte Slogan „publish or perish and follow the money“ diente hier als roter Faden. Wie die Chefredakteurin des Fachmagazins Gigascience, Laurie Goodmann, erklärte, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Enteignung wissenschaftlicher Autorschaft durch die Publikationsindustrie einerseits und der Wissenschaftsferne breiter Gruppen in Politik und Gesellschaft aufgrund fehlender Konzepte in Schule und Medien andererseits. Die australische Nachwuchswissenschaftlerin Vanessa Penna unterstützte diese Diagnose mit der Beschreibung ihres „Erwachens“ als Doktorandin aus der Naivität fremdbestimmter Forschung – zu einer selbst- und systemkritischen Neuentdeckung der genuinen Liebe zur Wissenschaft als Freude an der zweckbefreiten Schaffung von Wissen. Den Versuch, ein Modell für ganzheitliche, gesunde Wissenschafts- und Bildungsmündigkeit bereits in der Schule zu verankern, stellte der Leiter einer Hongkonger Sekundarschule, Ho Tim Shun vor.
Die Frage, was gesund macht und was besonders Wissenschaftler über Gesundheit wissen müssen, wurde nicht nur durch Negativbeispiele von Denk-, Organisations- und Motivationsfehlern anhand von ethischen Grenzüberschreitungen und politischen Fehlentscheidungen ausgebreitet. Es wurden strukturelle Analysen zur Erklärung für die Korruption im Forschungsbetrieb vorgelegt (Trennung von zwei Science-„Kulturen“, Kommerzialisierung und quantitative Qualitätsmessung), im Anschluß an Initiativen wie die „Slow Science“ (Berlin, Leiden) oder die San Francisco-„Declaration on Research Assessment“ (DORA). Ari Patrinos, einer der Pioniere des Ethical, Legal and Social Issues-Begleitprojektes zum Human Genome Project, regte an, den konstruktiven, orientierenden und die Vernunft stärkenden Grundgedanken der Ethik in der Wissenschaft wieder zu beleben. Aus der Perspektive einer jahrzehntelangen Erfahrung als Pionier der Pflanzengenetik riet Marc Montagu, ein ganzheitliches Verständnis von Wissenschaft für die heutige Zeit stark zu machen – konzeptuell, organisatorisch und gesellschaftlich.
In Zeiten globalisierter Technologie, Kommodifizierung und Infodemik hängt die Integrität der Wissenschaft besonders von der Fähigkeit ab, eine Vielfalt von Wissenskulturen zu mobilisieren, durch eine effiziente Organisation von Disziplinen und eine effektive Kultivierung von Forschung und Bildung (im Lehrplan und in der Selbststeuerung). Aus diesem Grund haben Institutionen und Ökonomie einen programmatischen Einfluss darauf, wie Wissenschaftler den Zweck der Wissenschaft erfüllen können. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen globalen technischen Standards mit ihrer Neigung zur Einheitlichkeit und der Kreativität, die die Wissenschaft als offene Erforschung unbestimmten Wissens antreibt. Während das Virus sein natürliches Bewegungsmuster hat, ist die richtige Art der Wissenschaft eine Frage des kulturellen Lernens. Das Virus „macht sein Ding“, reproduziert, passt sich an und verbindet sich opportunistisch. Die Wissenschaft kann die wissenschaftliche Evolution als bewussten wissenschaftlichen Forschungsgang verfolgen, insbesondere durch die Transformation veralteter Formen der Konnektivität.
Angesichts der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen von COVID-19 erinnert das Jahr 2020 die wissenschaftliche Gemeinschaft durch diese Veranstaltung in Wuhan daran, dass die Bedeutung der Herstellung und Vermittlung von gesundheitsbezogenem Wissen noch überwältigender, nuancierter, subtiler und relevanter für die Zukunft der Menschheit und der globalen Gesundheit ist als üblicher Weise gedacht. Basierend auf ihren synthetischen und prädiktiven Fähigkeiten und unseren gemeinsamen historischen und philosophischen Wissensschätzen hat die Wissenschaft die Möglichkeit, sich als zweckorientiert zu organisieren. Sie kann sich wieder auf Wissen konzentrieren, als ein soziales Gut und nicht als Industrieprodukt.
Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen der COVID-19-Pandemie veranschaulicht die Auswirkungen von drei lange ignorierten Problemen der Forschung: (1) wirklich in die Aufklärung der Öffentlichkeit zu investieren (Selbstreflexion, Kommunikation, soziale Verpflichtungen), (2) sicherzustellen, dass die Wissenschaft aus sich selbst heraus von der Wissenschaft angetrieben wird (verantwortungsvolle Urheberschaft), (3) eine gesunde professionelle Distanz zur Politik zu wahren (Widerstand gegen Macht, Gier und Eitelkeit). Der Bonner Philosoph und Global-Health-Ethiker Walter Bruchhausen brachte es auf den Punkt: es kommt auf das Zusammenwirken von Wissen und Tugend in der Person des Wissenschaftlers an.
Hierzu passte, dass weitere Panels sich mit „großen“ Fragen der Wissenschaft für Gesundheit befassten – immer mit Blick auf Akzente der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (UN SDG’s). Die Women in Science Conference ist ein bereits seit 5 Jahren etabliertes Format der ICG-Reihe. Initiiert von Laurie Goodman, wurde besonderes Gewicht auf die Stärkung junger Menschen durch Bildung gelegt. Die Schließung von Schulen als COVID-Maßnahme hat weltweit 90 % aller Schulkinder über längere Zeit „zu Hause“ gehalten, darunter mehr als 800 Millionen Mädchen. Diese Situation kann, Sara Platto von der China Biodiversity Conservation and Green Development Foundation (CBCGDF) zufolge Frauen den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung verwehren und damit ganze Länder und Regionen an der Entwicklung hindern (CBCGDF).
Die COVID-19-Pandemie hat Ungleichheiten in unseren Gesellschaften vergrößert, einschließlich Ungleichheiten für Pflegekräfte, die überwiegend Frauen sind. Wichtig sei, dass die Menschheit während der COVID-19-Pandemie auf erhebliche Probleme gestoßen ist, die nur durch Solidarität und aktive Unterstützung von Bildung überwunden werden können. Strukturelle Veränderungen wurden vorgeschlagen, um eine „sekundäre Epidemie verlorener Wissenschaftler“ zu verhindern, die für den Existenzkampf ihre akademische Laufbahn aufgeben müssen. Diese Pandemie erinnere daran, dass Gerechtigkeit ins Zentrum verantwortlicher Politik gehört, vor allem in Politik und Wirtschaft.
Auch „One Health“, „Planetary Health“, Biosicherheit und International Public Health waren große Teile der Veranstaltung gewidmet. Zhou Jinfeng, der Generalsekretär der CBCGDF, schlug eine Programmatik für „Innovative Praktiken auf dem Weg zu einer ökologischen Zivilisation“ vor. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur , genetische und biologische Forschung, kausale Zusammenhänge zwischen dem Handel mit wild lebenden Tieren und der menschlichen Gesundheitssituation ergänzen die Lektionen, die wir in der Perspektive Globaler Gesundheit lernen können.
Die COVID-19-Pandemie hat uns auf verheerende Weise an die Verflechtung der Dinge erinnert, insbesondere zwischen Volkswirtschaften, Umwelt, Gesundheit und Wohlergehen von Mensch und Tier. Sie hat unser Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen dem Umgang mit „wilden“ Organismen und der menschlichen Gesundheit geschärft. Hier können die kulturellen und ethischen Fragen ansetzen, die den besonderen Mehrwert des Ansatzes Globaler Gesundheit ausmachen.
Der ICG-15-Kongress hatte nach Angaben der Organisatoren 22 wissenschaftliche Sektionen mit 171 Referenten (86 vor Ort, 85 online). Die Gesamtzahl der Teilnehmer vor Ort betrug mehr als 1000, und die registrierten Online-Teilnehmer etwa 50.000.
Die gesamte Veranstaltung wird derzeit so aufbereitet, dass sie weltweit im open access Modus zugänglich ist. Das internationale interdisziplinäre Organisationskomitee hatte von Anfang an die Devise ausgegeben, ein weiteres Zeichen der Solidarität und Zusammenarbeit für Menschlichkeit durch niederschwellige Teilhabe zu setzen. Jetzt wendet sich die Aufmerksamkeit von Asien nach Afrika.